Schallplatte und Rundfunk (1931)

ID: 207571
Schallplatte und Rundfunk (1931) 
14.Dec.09 02:43
4151

Georg Richter (D)
Beiträge: 909
Anzahl Danke: 10
Georg Richter

In der deutschen Zeitschrift "Die Sendung - Das Rundfunkwesen", Heft 32/VIII vom 7. August 1931, erschien auf Seiten 624 und 625 dieser Bericht:


Schallplatte und Rundfunk
Von Felix Stössinger

Als der Rundfunk groß wurde, ist der Schallplatte oder, wie man “damals” noch allgemein sagte, dem Grammofon der Tod prophezeit worden. Heute wissen wir, daß diese Prophezeiung ebenso falsch war wie vor Jahrzehnten, als das Automobil eingeführt wurde, die Besorgnis, jetzt würde die Menschheit ihre Verbundenheit zur Natur verlieren und durch die Maschine der Landschaft entzogen werden. Heute weiß man, daß das Gegenteil eingetreten ist. Die Menschheit hat durch das Auto die Natur erst kennengelernt und gerade die nähere Umgebung der Großstädte ist durch das Automobil mit den Großstädten verbunden worden. Auch der Rundfunk hat nur ganz kurze Zeit die Funktion der Schallplatte übernehmen können. Die Verbesserung der Aufnahmetechnik führte auch zu einer Revolutionierung der Schallplatte, der Rundfunk hat die Schallplatte, die bisher das Vorrecht eines kleinen Kreises begüterter Menschen war, Millionen Hörern übermittelt, die Schallplattenindustrie hat Serienprodukte herausgebracht, die sogar eine starke, schwer zu bekämpfende Konkurrenz des Buches schufen, die Schallplatte dankt dem Rundfunk ihre heutige Popularität und der Rundfunk der Schallplatte einen Teil, ja sogar einen bedeutsamen Teil seiner Programme. Schallplatte und Rundfunk wirkten wechselseitig aufeinander ein, bis nunmehr ein Punkt erreicht ist, an dem eine neue Verwischung der Funktionen, damit aber auch eine Störung der Funktionen zu entstehen droht. Das ist an zwei Erscheinungen zu erkennen: an einer Übersättigung des Rundfunks durch Schallplattenmusik und an einer Bedrohung des Schallplattenabsatzes, den die Schallplattenindustrie heute nicht allein mit der Wirtschaftskrise begründet glaubt, sondern auch mit dem Überangebot an Schallplattenmusik, das die Rundfunkhörer erhalten.

Die Schallplatte findet im Rundfunk aus verschiedenen Gründen Verwendung. Sie bietet dem Rundfunk an erster Stelle den Vorteil eines Programms, das fix und fertig vorliegt. Die Schallplatte vermittelt ferner dem Rundfunk Künstler, die sonst unerreichbar sind, entweder weil sie tot sind oder an anderen Orten leben, oder die, selbst wenn sie an Ort und Stelle leben, nicht beliebig oft zu haben sind. Die Schallplatten-sendnng erspart dem Rundfunk ferner Proben, Verhandlungen, Geschäftskorrespondenz und gelegentlich auch Honorare. Sie erspart viel Mühe beim Aufstellen der Programme. Wenn auch nicht im entferntesten das ganze Gebiet der heute noch wirksamen Musik von der Schallplatte erfaßt ist, so bieten doch die Schallplattenfirmen eine Auswahl dar, aus der immer wieder neue Anregungen geschöpft werden können. Dazu kommt das Angebot von Neuheiten. Besonders die leichte Musik ist auf dem Schallplattenmarkt reichlich und in besten Ausführungen vertreten. Die Qualität der Platten sichert dem Programm eine ganz einwandfreie Reproduktion. Auch der beste Künstler kann einmal indisponiert vor das Mikrofon treten. Schallplatten indisponierter Künstler können aber bereits von vornherein von der Vorführung ausgeschlossen werden. Alle diese Vorteile sind groß und überzeugend, und so konnte es besonders auch aus finanziellen Gründen nicht fehlen, daß die Schallplattensendung im Rundfunk eine immer größere Bedeutung einnahm.

Allmählich ist aber die Schallplatte aus einem Mittel zur Gestaltung guter Rundfunkprogramme zu einem Störungsfaktor des Rundfunkprogramms geworden. Vor allem dadurch, daß sich der Rundfunk das Senden von Schallplatten oft gar zu leicht macht. Auf diese Weise entstehen Sendungen, die wohl aus Platten zusammengesetzt sind, deren Qualität die Rundfunkübertragung an sich berechtigt macht, ohne daß sie aber, wie schließlich alles andere auch, in jedem Zusammenhang wirken. Gerade bei Schallplattensendungen zeigt sich immer mehr, daß Aufbau, Reihenfolge, Abwechselung in einem Programm sein Wesen ausmachen«. Nichts gefährdet also die wichtige Rolle der Schallplatte im Rundfunkprogramm so sehr wie leichtsinnig gesendete Schallplattenprogramme.

Die Organisation einer Sendegesellschaft umfaßt viele Abteilungen, von denen nicht immer jede weiß, was die andere tut. Bei den meisten Sendern ist wohl die Schallplattensendung zentralisiert. Daneben gibt es aber die Sendungen, die die Industrie selbst vormittags veranstaltet und deren Programme schwerlich in das Gesamtprogramm eingereiht werden können. Wie und wo Programme entstehen, ist aber für den Hörer völlig belanglos. Für ihn ist von Interesse, daß früh, vormittags, mittags, sehr oft nachmittags und abends Schallplattensendungen stattfinden. Ein Zusammenhang zwischen ihnen ist für ihn nicht zu erkennen. Er wird einfach mit Schallplattenmusik versorgt, und da dies täglich stundenlang geschieht, wird er ihrer um so schneller überdrüssig, je weniger er den Sinn der Sendungen durchfühlt.

Für dieses Fühlbarwerden einer Programmfunktion hat aber der Hörer sehr viel mehr Sinn als allgemein angenommen wird. Von klaren Dispositionen geht eine Wirkung aus, die auch den Zuhörer erfaßt und selbst disponiert. Die Klarheit eines programmatischen Wollens überträgt sich auf den Hörer. Er fühlt ganz gut, auch wenn er nicht weiß, worum es sich handelt, ob ihm ein bewußt klares und gestaltetes Werk geboten wird oder ein wahlloses und zweckloses Neben- und Nacheinander der Dinge. Aus diesem Grunde gehört zur Entlastung des Rundfunks von dem Überangebot an Schallplattenmusik nicht so sehr eine Minderung der Sendezeiten als eine Disposition des Stoffes, die wesentlich besser sein muß als es heute der Fall ist. An eine Neugestaltung des Schallplattenprogramms der Vormittagssendungen, die die Schallplattenfirmen selbst redigieren, ist gerade die Industrie interessiert. In ihrer Mitte wird daher schon seit langem erwogen, durch eine Neugestaltung dieser Programme den Hörer viel unmittelbarer als bisher zu erfassen. Was auch immer auf diesem Gebiet geschehen soll, geplant ist mancherlei, die Wirkung wird nicht erreicht werden, wenn nicht eine Abstimmung des Gesamtschallplattenprogrammes einheitlich erfolgt.

Bei der Auswahl der Schallplattenmusik selbst ist eine sonderbare Beharrlichkeit immer wieder erstaunlich. Jede Saison hat ihre Stücke, die mit einer Unermüdlichkeit von allen Sendern wiederholt werden, als ob es sonst keine Musik gäbe. Könnte man nicht einmal auf drei Monate die “Fledermaus”, „An der schönen blauen Donau”, „Die diebische Elster”, „Sommernachtstraum” verbieten. Früher grassierte die „Kleine Nachtmusik” von Mozart, verschiedenes von Tschaikowsky und Richard Strauß. Man muß bei der Beharrlichkeit dieser Wiederholungen annehmen, daß, was selbstverständlich sein sollte, eine Kartothek über sämtliche Schallplattensendungen nicht geführt wird, denn anders sind diese periodischen Seuchen gar nicht zu verstehen. Ohne eine statistische Methode, die freilich nicht nur die gesandten, sondern auch die geplanten Schallplattenkonzerte erfassen müßte, ist ein logischer und rhythmischer Aufbau der Schallplattensendungen nicht denkbar.

Die reine Schallplattensendung ist in den letzten Jahren durch die Sendung von Vorträgen, die durch Schallplatten illustriert werden, glücklich ergänzt worden. Ich habe selbst eine Reihe von Vorträgen mit Meisterplatten in deutschen und ausländischen Sendern gehalten und aus der Korrespondenz mit Hörern erkannt, welche große Bedeutung es für den Hörer hat, daß zu jeder gesendeten Schallplatte orientierende Worte gesprochen werden. Eine Platte in fremder Sprache gesungen mit kurzer Vororientierung wirkt auf den Hörer stärker als eine Platte mit deutschem Text, den er wort-wörtlich versteht. Die Verbindung von Text und Schallplatte appelliert an zwei ganz verschiedene psychische Funktionen. Sie wirkt daher anregender als der reine Vortrag und die reine Musiksendung. Wenn eine Reihe von Hörern wünschte, daß diese Sendungen noch stundenlang gedauert hätten, so betrachte ich das als eine Bestätigung dafür, daß den Hörer diese Methode am wenigsten ermüdet. Ich glaube nicht, daß Hörer den Wunsch haben, reine Schallplattenkonzerte oder reine Vorträge sehr lange zu hören. Freilich ist es auch notwendig, daß das erklärende Wort den Hörer in der Sphäre der Musik beläßt. Die Übergänge von Wort und Musik dürfen nicht trennen, sie müssen verbinden.

Im Rundfunkbetrieb spielt nicht nur die Schallplatte eine Rolle, die der Sender übermittelt, sondern auch die, die er selbst im eigenen Betrieb aufnimmt. Die Hörer kennen sie aus den bekannten Rückblicken, die leider oft zu wünschen übrig lassen und offenbar dem Rundfunk selbst nicht mehr viel Freude machen. (Die Schriftleitung, die sich hierin dem Urteil des Verfassers nicht anschließt, würde das sehr bedauern.) Ich weiß nicht, nach welchem System der Rundfunk seine Sendungen auf Schallplatten fixiert; ich möchte aber bei dieser Gelegenheit den Wunsch aussprechen, daß die Reichssendung der Bachkantaten, deren Durchführung dem von mir in der „Sendung” entwickelten Programm entspricht, auf Schallplatten festgehalten wird. Warum diese Rundfunk-Schallplatten aber nicht in den Handel kommen, ist vollkommen unerfindlich. Rundfunk, Post und Reich brauchen Geld, und hier liegt ein Kapital vor, dessen Auswertung große Möglichkeiten eröffnet. Es wäre zu wünschen, daß der Rundfunk im Einvernehmen mit der Schallplattenindustrie die Verbreitung dieser und anderer Schallplatten beschließt. Damit wäre der Kreis gerundet, der Schallplatte und Rundfunk verbindet.


Anmerkung GR:

Die zitierten “periodischen Seuchen sind heutzutage die mehrmals tägliche Hitparade Platz 1 bis 40 und zurück (und umgekehrt). Die Moderation bis in den Anfang eines Titels sowie dessen Ausblendung widerspricht eklatant dem kulturellen Auftrag öffentlich rechtlicher Rundfunkanstalten.

Der Moderator des längst untergegangenen Privatsenders Radio Viktoria in Baden-Baden pflegte die Hörerschaft mit seinem (fiktiven) “Salto am Mikrophon zu beglücken ... 

Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.